Der Mythos des guten Lernens

Worum handelt es sich bei „Lerntypen”?

Im Rahmen einer Planung von Interventionen in der Pädagogischen Psychologie haben wir uns mit Annahmen im Kontext von Lernen beschäftigt. Viele von ihnen gelten als weit verbreitet (Dekker et al., 2012), wie zum Beispiel: „Schüler*innen lernen besser, wenn ihnen Wissen ihrem Lerntyp entsprechend (z. B. visuell, auditiv, haptisch) vermittelt wird”. Doch basiert dieser Satz auf wissenschaftlicher Evidenz? Er begegnete uns schon in der Schule, sodass einige von uns ihn bereits beim Lernen anwandten.

Die Annahme, dass Schüler*innen besser lernen, wenn ihnen Wissen ihrem Lerntypus entsprechend vermittelt wird, scheint sich hartnäckig in der Gesellschaft und bei zahlreichen Praktiker*innen zu halten (i. r. Daumiller & Wisniewski, 2022; Macdonald et. al, 2017). Um aktuelle Forschungsbefunde zu replizieren und die Verbreitung der Annahme zu überprüfen, haben wir im Rahmen eines Seminars eine explorative Datenerhebung mit Lehramtsstudierenden durchgeführt. Es zeigte sich auch hier, dass die Aussage Zustimmung fand. Aus diesem Grund haben wir uns zunächst gefragt, welche Gedanken (angehende) Lehrer*innen zu Lerntypen haben und inwiefern sie ihr Wissen in der didaktischen Praxis einsetzen (wollen).

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir per WhatsApp einige befreundete Lehrkräfte gefragt, was sie von Lerntypen halten und ob sie planen, diese im Unterricht anzuwenden – mit zwei von ihnen ergaben sich Konversationen, aus denen wir im Folgenden zitieren.

Zunächst fällt auf, dass beide Personen mit dem Konzept der Lerntypen vertraut sind und ihm aufgrund von wissenschaftlichen Befunden oder der Begegnung im universitären Kontext eine gewisse Legitimation zuschreiben:

„Du meinst, dass es visuelle, auditive, motorische und kommunikative Lernende gibt oder?”

„Ja haben wir in den Didaktik Vorlesungen viel drüber gesprochen”

– Emma (Studentin im 3. MFS, 24, NRW)[1]

„Es gibt ja Studien, die sagen, über welchen Zugang Kids am besten lernen und das behalten.”

– Charlotte (Lehrerin seit 2 Jahren, 27, NRW)

Dieser erste Eindruck passt zu Studienergebnissen, die zeigen, dass die Annahme der Lerntypen unter Lehrkräften weit verbreitet ist (Macdonald et. al, 2017; Howard-Jones, 2014). Aber was sind denn diese Lerntypen überhaupt? Das wollten wir uns im Detail ansehen und herausfinden, wo die Wurzeln dieses Konzepts liegen.

Bei unserer Recherche überraschte uns, dass die vermutlich bekanntesten Lerntypen nicht aus der psychologischen Forschung stammen, sondern ihren Ursprung beim Biochemiker, Systemforscher und Umweltexperten Frederic Vester (1925-2003) haben. In seinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ (überarbeitete Neuauflage 1984) postulierte er im Jahr 1975 das Konzept der „Lerntypen“. Dabei betonte er, dass Menschen sich in visuelle, auditive, haptische und kognitive Lernende einteilen lassen. Er ging davon aus, dass Menschen unterschiedlich gut Wissen über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle aufnehmen und entsprechend über ihren präferierten Kanal am effektivsten lernen können (i. r. Daumiller & Wisniewski, 2022). Anhand ihrer individuellen Anlagen und Fähigkeiten werden Lernenden des jeweiligen Lerntyps spezifische Eigenschaften zugesprochen (Vester, 1998): Der visuelle Typ (1) lerne besonders gut „bildlich“ über Grafiken, Diagramme oder Texte. Der auditive Lerntyp (2) lerne hingegen effektiver, wenn er die Informationen über das (Zu)hören dargeboten bekäme – also durch Vorlesen, Vorträge oder eigenes Sprechen. Der haptische Lerntyp (3) profitiere wiederum von praktischen Erfahrungen und anwendungsorientierten Übungen. Der kognitive Lerntyp (4) lerne durch seinen „Intellekt“ (Vester, 1998), besonders anhand von Diskussionen und Gesprächen – deswegen wird heute auch vom kommunikativen Lerntyp gesprochen (i. r. Daumiller & Wisniewski, 2022). Er ist der einzige Lerntyp, der sich nicht auf eine spezifische Sinnesmodalität bezieht (Looß, 2001). Vester (1998) geht also davon aus, dass Lernen gleich Wahrnehmung sei. Nur der vierte Lerntyp lernt durch kognitive Verarbeitung – wie die meisten von uns Lernen verstehen – und passt nicht so richtig in das Konzept des Lernens über Wahrnehmungskanäle (Looß, 2001). Allerdings hat Vester seine Theorie nie experimentell überprüft; seine Befunde wurden nicht repliziert und sind somit allein aus diesem Grund kritisch zu hinterfragen (Looß, 2001).

So weit so gut. Aber was machen Lehrkräfte daraus? Wir haben unsere Interviewpartnerinnen gefragt, inwiefern sie die Informationen über Lerntypen in Didaktiken im Klassenraum übersetzen wollen. Beide zeigen sich motiviert, zur individuellen Förderung ihren Unterricht möglichst passend zu gestalten. Emma begründet dies mit ihrer eigenen Lernerfahrung:

„Uns wird immer vermittelt, dass wir das unbedingt berücksichtigen müssen und ich fände es auch Hammer, das später in meinem Unterricht einzubeziehen, weil ich zum Beispiel null auditiv klarkomme (Lachen). Aber ist manchmal natürlich schwierig, das immer einzubeziehen, aber Differenzierung ist einfach super wichtig und liegt mir am Herzen jede*n individuell zu sehen! Wie ich das dann später umgesetzt bekomme – I don’t know…”

– Emma (Studentin im 3. MFS, 24, NRW)

Während Emma in der Umsetzung noch Unklarheiten benennt, hat Charlotte bereits konkrete Vorstellungen:

„Ich versuche das schon zu berücksichtigen, wenn es möglich ist. In Mathe könnte das zum Beispiel bei Flächeninhalten von Rechtecken so aussehen: da kann man Einheitsquadrate nehmen und die Kids das Rechteck auslegen lassen, so sollen sie dann die Formel entdecken über systematisches Zählen.”

– Charlotte (Lehrerin seit 2 Jahren, 27, NRW) in Bezug auf den haptischen Lerntypus

Unsere Befragungen sowie aktuelle Befunde (Newton & Salvi, 2020) zeigen, dass viele Lehrkräfte ihre Unterrichtsmethoden an Lerntypen anpassen. Als kurzes Zwischenfazit kann man festhalten: Vester hat 1975 Lerntypen vorgestellt nach denen 47 Jahre später immer noch Lehrende und Lernende ihre Methoden zumindest teilweise anpassen. Der heutige Stand der Wissenschaft hat jedoch klare und eindeutige Erkenntnisse zur Existenz von Lerntypen: Es gibt sie nicht. Aus diesem Grund erscheint es uns wichtig den aktuellen Stand der Wissenschaft näher darzulegen. Hierzu geben Daumiller und Wisniewski (2022) einen guten Überblick:

Die beiden Autor*innen legen dar, dass Lernende durchaus Vorlieben haben, was die Art der Präsentation des Lernmaterials betrifft. Diese Präferenzen unterliegen jedoch starken Schwankungen und sind zeitlich nicht überdauernd – ein Widerspruch zu einer klaren Einteilung in „Typen”. Sie lassen sich weiterhin eher auf eine persönliche Wahl zurückführen – geleitet von eigenen Fähigkeiten und Erfolgsaussichten. Daneben spiele der Lerngegenstand selbst eine zentrale Rolle. Das bedeutet, dass meine Vorliebe für das Lernen mit Mind-Maps zu einem bestimmten Thema an einem Tag keine Auskunft über mein allgemeines Lernverhalten geben kann. Auch bezüglich des praktischen Unterrichts gibt es laut Daumiller und Wisniewski (2022) keine Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass eine Anpassung von Unterrichtsmaterialien entsprechend der jeweiligen Lerntypen der Schüler*innen eine Verbesserung ihres Lernens mit sich bringt.

Aus psychologischer Sicht ist das Konzept von Lerntypen laut den Autor*innen aus verschiedenen Gründen nicht haltbar: Die psychologische Forschung betrachtet menschliche Merkmale als normalverteilt[2] und somit bestehen individuelle Ausprägungen auf jedem der Merkmale. Dass Vester für drei Lerntypen eine Einteilung nach Sinnesmodalitäten postuliert, läge der fälschlichen Annahme zugrunde, dass Lernen gleichbedeutend sei mit der Aufnahme von Informationen durch die Sinneskanäle. Lernen sei jedoch vielmehr eine Verarbeitung der aufgenommenen Inhalte und Verknüpfung mit bestehenden Strukturen von Wissen. In diesem Sinne sei es auch kein Synonym für ein “bloßes” Merken, welches am ehesten mit Präferenzen für einen Kanal in Verbindung gebracht werden könnte.

Dies teilten wir Emma (in verkürzter Form) mit, die mit Überraschung reagierte:

„Ach verrückt, das ist ja mal was! Also ich hab das schon so oft in der Uni gehört, dass ich ganz geschockt bin […]. Hab auch immer gedacht, dass ich zum Beispiel auch mit rein auditiven Inhalten gar nicht klarkomme und eher eine visuelle bzw. motorische Lernerin bin.”

– Emma (Studentin im 3. MFS, 24, NRW)

Emmas Überraschung teilen wir, vor allem in Bezug auf die Vermittlung der Lerntypen in der Ausbildung zu Lehrer*innen. Aber warum ist der Glaube an Lerntypen trotz des aktuellen Forschungsstands immer noch so weit verbreitet? Bei näherer Recherche fällt uns auf, dass Lerntypen von diversen Firmen, Verlagen, Coaches und Websites vermarktet werden (z.B. Forbes Technology Council, 2022). Aktuell liegt Vesters Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ in der 40. Auflage beim dtv vor. Der dtv bewirbt dieses auf seiner Homepage als „Klassiker” und gibt in der Beschreibung an: „Die Bedeutung von Vesters Erkenntnissen ist heute größer denn je”. Laut der Professorin für Biologie und Biologiedidaktik der TU Braunschweig, Maike Looß, habe sich Vesters Theorie von ihm als Urheber weitgehend „verselbstständigt“, sei durch „Publikationen sowie Veranstaltungen verschiedenster Art weit verbreitet“ worden und genieße eine „beachtliche Popularität“ (Looß, 2001). Googelt man „Lerntypen“, werden eine Reihe von Lerntypentests vorgeschlagen, die nach schneller Auswertung weiter zu spezifischen Weiterbildungen oder Programmen leiten. Das Nutzen von Lerntypen zu Werbezwecken scheint also lukrativ zu sein. Dass Werbung nicht immer auf wissenschaftlichen Fakten basiert, ist bekannt. Sind also Lerntypen nur ein nettes Gadget, das Lehrer*innen und individuelle Lernwege unterstützt?

Auch hier deutet Emmas Aussage in Bezug auf ihre eigene Präferenz auf eine weitere wichtige Frage hin, die sich uns abschließend stellte: Welche Folgen ergeben sich für Schüler*innen in diesem Kontext? Man könnte annehmen, dass die Unterteilung in Lerntypen zwar keinen empirischen Nutzen vorweist, jedoch auch keine erheblichen Konsequenzen auf das Lernen von Schüler*innen hat. Besteht überhaupt ein dringender Bedarf zur Aufklärung? In der praktischen Anwendung weist die Klassifikation von Lernenden im Unterricht allerdings sehr wohl einige problematische Aspekte auf (i. r. Dauermiller & Wisniewski, 2022). Zunächst erfordert es viel Zeit seitens des Lehrpersonals die verschiedenen Lerntypen zu identifizieren (Newton & Salvi, 2020). Außerdem kostet es viel Energie individuell angepasste Lernmaterialien zu konzipieren. Diese Ressourcen und Anstrengungen könnten in andere effektive Unterrichtsmethoden investiert werden, um Schüler*innen dabei zu unterstützen, ihr bestmögliches Potential zu entfalten (Kirschner & Merrienboer, 2013). Weiter werden Lernende durch die Zuordnung eines Lerntyps in Schubladen gesteckt. Diese Reduktion ihres vermeintlichen Potentials könnte eine demotivierende Wirkung auf die Schüler*innen haben (Newton & Salvi, 2020). Somit könnte die Einteilung dazu führen, dass Lernende des „auditiven Lerntyps“ keinen Sinn darin sehen, ein Studium in schriftlich geprägten Bereichen wie bspw. im Journalismus anzustreben. Zuletzt wäre denkbar, dass die Zuweisung zu einem Lerntyp dazu führe, dass Schüler*innen falsche implizite Theorien über das eigene Selbst und entsprechend über ihr Lernverhalten entwickeln (Vasquez, 2009). Der Lerntyp würde im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu einem verzerrten Selbstbild beitragen und das Lernen einschränken.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine strikte Ausrichtung an dem Konzept „Lerntypen” tendenziell als unnötige Investition von zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen einzuschätzen ist. Gleichzeitig nehmen wir zumindest bei unseren Gesprächspartnerinnen eine fundierte Motivation wahr, ihren Unterricht individuell förderlich zu gestalten. Dies ermöglicht uns einen optimistischen Ausblick: Denn während wir eine Typisierung in Lernende, die vermeintlich hauptsächlich einen Sinneskanal nutzen, als unangemessen einstufen, kann sich ein Ansprechen möglichst vieler Sinneskanäle durchaus positiv auf die Aufnahme und Speicherung neuer Informationen auswirken. Wir können also guten Gewissens sagen, eine individuelle und flexible Gestaltung von Lehrmethoden ist gut für Lernende. Ob es dazu allerdings einer Kategorisierung bedarf und inwiefern man Bücher, Tests und Programme, die auf solche Lerntypen spezialisiert sind, nutzt und unterstützt, sollte durchaus kritisch hinterfragt werden. Drum ist die Moral von der Geschicht’: Nur einen Sinneskanal anzusprechen lohnt sich nicht!


[1] In Absprache mit den Interviewten dürfen wir ihre Aussagen unter Verwendung von Pseudonymen nutzen.

[2] „Die Normalverteilung unterstellt eine symmetrische Verteilungsform numerischer Daten […]. Sie ist ein Verteilungsmodell der Statistik. Ihr Kurvenverlauf ist symmetrisch, Median und Mittelwert sind identisch. Die Normalverteilung findet häufig bei großen Grundgesamtheiten ihre Anwendung – so ist zum Beispiel die Körpergröße in Deutschland normalverteilt.“ (statista.de)


Quellen:

Daumiller, M., & Wisniewksi, B. (i.r. 2022). Lerntypen – Warum es sie nicht gibt und sie sich trotzdem halten. https://doi.org/10.31234/osf.io/uzyae

Definition der Normalverteilung (o.D.). Statista. Letzter Zugriff am 06.07.2022: https://de.statista.com/statistik/lexikon/definition/95/normalverteilung/

Dekker, S., Lee, N. C., Howard-Jones, P., & Jolles, J. (2012). Neuromyths in education: Prevalence and predictors of misconceptions among teachers. Frontiers in psychology, 429.

Forbes Technology Council (24.01.2022). 15 low cost, high impact ways to improve  educational outcomes  through technology. https://www.forbes.com/sites/unicefusa/2022/03/24/a-volunteer-translator-helps-fellow-refugees-from-ukraine/?

Howard-Jones, P. A. (2014). Neuroscience and education: myths and messages. Nature Reviews Neuroscience15(12), 817-824.

Kirschner, P. A., & van Merriënboer, J. J. (2013). Do learners really know best? Urban legends in education. Educational Psychologist, 48(3), 169–183.

Looß, M. (2001). Lerntypen. Die Deutsche Schule93(2), 186-198.

Macdonald, K., Germine, L., Anderson, A., Christodoulou, J., & McGrath, L. M. (2017). Dispelling the myth: Training in education or neuroscience decreases but does not eliminate beliefs in neuromyths. Frontiers in psychology8, 1314.

Newton, P. M., & Salvi, A. (2020). How common is belief in the learning styles neuromyth, and does it matter? A pragmatic systematic review. Frontiers in Education, p.270. Frontiers.

Vasquez, K. (2009). Learning styles as self-fulfilling proph-ecies. In R. Gurung, & L. Prieto (Hrsg.), Getting culture: incorporating diversity across the curriculum (pp.  53–63). Stylus.

Vester, Frederic 1998: Denken, Lernen, Vergessen. 25. Auflage, München: dtv