Mythos Gehirnhälften

Können Unterschiede in der Dominanz der Gehirnhälften (links vs. rechts) tatsächlich individuelle Unterschiede zwischen Lernenden erklären? 

Worum geht es? 

Es existiert die Annahme, dass unser Gehirn in zwei funktional unabhängige Hälften unterteilt ist. Die rechte Hemisphäre[1]  wird assoziiert mit der Verarbeitung visueller Informationen und gilt als Zentrum für kreative Fähigkeiten. Die linke Gehirnhälfte hingegen wird mit logischem Denken und der Verarbeitung sprachlicher Informationen in Verbindung gebracht. Aus diesen vermeintlichen Eigenschaften des Gehirns und dem Lernverhalten einer Person werden oftmals Charaktereigenschaften abgeleitet. Die Dominanz einer Gehirnhälfte steht dabei für die individuellen Fähigkeiten und ist für Unterschiede zwischen Lernenden verantwortlich (OECD, 2002). Lernende, die in ihrem Denken schrittweise und sequentiell vorgehen, werden als “left-brained” bezeichnet und Personen, die sich beim Lernen von ihrer Intuition leiten lassen, als “right-brained”. (Howard-Jones, 2014).

Welche Folgen ergeben sich daraus?

Diese Annahme ist innerhalb der Gesellschaft weit verbreitet (Howard-Jones, 2014; Dekker et al., 2012). Praktische Auswirkungen finden sich in erster Linie im Kontext von Schule und Unterricht. Insbesondere (angehende) Lehrkräfte sind mit einer Vielzahl von Aussagen darüber konfrontiert, wie das menschliche Gehirn funktioniert und welche Implikationen sich daraus für einen vermeintlich “gehirngerechten” Unterricht ergeben (Krammer et al., 2019). So gibt es Empfehlungen, die eine gleichmäßige Stärkung und Förderung beider Gehirnhälften im Unterricht nahelegen, beispielsweise durch die Anwendung unterschiedlicher Methoden. Andere ermutigen Lehrkräfte festzustellen, ob ein Kind “left-brained” oder “right-brained” ist, bevor sie es unterrichten (Howard & Jones, 2014). 

Woher kommt diese Auffassung?

Aus heutiger Perspektive lässt sich der Ursprung dieser Annahme in Studien an sogenannten “Split-Brain-Patienten” verorten, die überwiegend in den 1960er Jahren durchgeführt wurden (Costandi, 2015). Um der Frage nachzugehen, wie das teils unvorhersehbare Auftreten epileptischer Anfälle besser kontrolliert werden kann, wurde bei Betroffenen das sogenannte Corpus Callosum (auch Balken genannt) durchtrennt. Der Balken bezeichnet ein Bündel aus Nervenfasern, welches die Gehirnhälften miteinander verbindet und für einen stetigen Informationsaustausch zuständig ist. Ziel war es, die Ausbreitung eines Anfalls von einer auf die andere Gehirnhälfte zu verhindern (Beck, 2015). 

Bei anschließenden Untersuchungen konnte sodann festgestellt werden, dass grundlegende Denkaufgaben wie Sprache oder das Erkennen von Objekten vorwiegend     von einer Hirnhälfte übernommen werden (Beck, 2015; Costandi, 2015). Ausgehend von dieser Erkenntnis hat sich die Idee entwickelt, dass das menschliche Gehirn aus abgrenzbaren Einheiten besteht und jede Hirnhälfte auf spezifische Art und Weise Informationen verarbeitet (LeDoux et al., 1977). 

Bedeutet das nun, das Gehirn ist in zwei unabhängige Hälften geteilt? 

Studien mit Split-Brain-, gesunden sowie hirngeschädigten Proband*innen zeigen eindeutig, dass funktionelle Asymmetrie[2] ein hervorstechendes Merkmal der menschlichen Gehirnorganisation ist (LeDoux et al., 1977). Das Gehirn enthält tatsächlich abgegrenzte Areale, die auf bestimmte Funktionen spezialisiert sind. Diese arbeiten allerdings nicht nur  für sich allein (Costandi, 2015). Zudem hat sich herausgestellt, dass sich die linke und rechte Gehirnhälfte in der Art und Funktionsweise ihrer Informationsverarbeitung grundsätzlich ähneln (LeDoux et al., 1977). Die Ergebnisse der verschiedenen Studien führen somit zu dem Schluss, dass sich das menschliche Gehirn in seiner Arbeitsweise nicht in zwei unabhängige, aber parallel-laufende Systeme unterteilen lässt.

Wie funktioniert es denn dann?

Neurowissenschaftler*innen betonen, dass das Gehirn als ein verknüpftes Netzwerk zu sehen ist (Costandi, 2015). Einfache und elementare Denkvorgänge werden zwar getrennt in den Gehirnhälften bearbeitet bzw. finden dominant in einer bestimmten Hemisphäre statt (Beck, 2015; OECD, 2002). Um allerdings komplexe Gedanken oder Entscheidungen hervorzubringen, stimmen sich die beiden Gehirnhälften miteinander ab, indem sie ihre Informationen austauschen und als Teil eines gemeinsamen Netzwerks auftreten (Beck, 2015; Howard-Jones, 2014). Nicht nur für Denkvorgänge, sondern auch für Handlungen, wie beispielsweise beim Lernen, sind beide Hemisphären von Bedeutung und arbeiten in koordinierter Weise zusammen (Costandi, 2015; OECD, 2002). Die gegenwärtige Vorstellung von der Arbeitsweise des Gehirns ist also eine Kombination der beschriebenen Ansätze. Es lässt sich zusammenfassen, dass eine funktionelle Asymmetrie existiert, das Gehirn jedoch als eng verknüpftes System arbeitet, um Denken und Verhalten zu erzeugen  (Costandi, 2015). 

Welche Empfehlungen ergeben sich für die Praxis? 

Die derzeitigen Erkenntnisse machen deutlich, dass das menschliche Gehirn ein stark integriertes System ist, dessen Teile nur selten in Isolation arbeiten. Hieraus ergibt sich, dass sich Menschen nicht ausschließlich aufgrund ihrer genetischen Anlagen in „left- oder right-brained“ unterteilen lassen. Unabhängig von der Aufgabenteilung der beiden Gehirnhälften besitzt jede Person ein Potential zur geistigen Entwicklung und Entfaltung, weshalb eine entsprechende Förderung für den Lernerfolg im Unterricht entscheidend ist. Es schließt sich somit nicht aus, sowohl eine mathematische als auch eine kreative Begabung zu besitzen. 

Die häufig formulierte Empfehlung, Lernmaterialien im Unterricht multimodal beziehungsweise für verschiedene Sinneskanäle aufzubereiten, ist grundsätzlich lernförderlich. Wichtig ist allerdings zu wissen, dass die Gründe hierfür nicht in der Dominanz der Gehirnhälften von Lernenden zu verorten sind (Mayer, 2009).

[1] Der Begriff Hemisphäre bezeichnet in der Anantomie die beiden Hälften des menschlichen Großhirns.

 [2] Mit „funktioneller Asymmetrie“ wird die unterschiedliche Funktionsweise beider Gehirnhälften trotz anscheinender gleicher anatomischer Struktur beschrieben.


Literaturverzeichnis

Beck, H. (2015, 31. Juli). Neuromythen & Hirnlegenden: Wie unser Gehirn wirklich tickt. Trainertreffen Deutschland. Abgerufen am 14. Juni 2022, von https://www.trainertreffen.de/index.php/journal-mainmenue/847-wissenschaft-forschung/24104-neuromythen-hirnlegenden-wie-unser-gehirn-wirklich-tickt 

Costandi, M. (2015). 50 Schlüsselideen Hirnforschung. Springer-Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-662-44191-6_2 

Dekker, S., Lee, N. C., Howard-Jones, P., & Jolles, J. (2012). Neuromyths in education: Prevalence and predictors of misconceptions among teachers. Frontiers in psychology, 429. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2012.00429 

Howard-Jones, P. A. (2014). Neuroscience and education: myths and messages. Nature Reviews Neuroscience15(12), 817-824. https://doi.org/10.1038/nrn3817 

Krammer, G., Vogel, S. E., Yardimci, T., & Grabner, R. H. (2019). Neuromythen sind zu Beginn des Lehramtsstudiums prävalent und unabhängig vom Wissen über das menschliche Gehirn. Zeitschrift für Bildungsforschung9(2), 221-246. https://doi.org/10.1007/s35834-019-00238-2 

LeDoux, J. E., Wilson, D. H., & Gazzaniga, M. S. (1977). Manipulo-spatial aspects of cerebral lateralization: Clues to the origin of lateralization. Neuropsychologia15(6), 743-750. https://doi.org/10.1016/0028-3932(77)90004-5 

Mayer, R. (2009). Multimedia Learning (2nd ed.). Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9780511811678 

OECD. Publishing. (2002). Understanding the brain: Towards a new learning science. Organisation for Economic Co-operation and Development.