Kritische und sensible Perioden – Ein Gedankenexperiment

Im Zusammenhang mit kindlicher Entwicklung ist häufig die Rede von so genannten „kritischen“ oder „sensiblen Perioden“. Aber worum handelt es sich hierbei überhaupt? Im Fokus steht die Annahme, dass es in der Kindheit bestimmte kritische Perioden gibt, nach deren Ablauf bestimmte Fähigkeiten nicht mehr erworben werden können (z.B. Goswami, 2006; OECD, 2002). Häufig ist in diesem Zusammenhang davon die Rede, dass gerade die ersten drei Lebensjahre die gesamte Zukunft eines Menschen prägen (Meinhardt, 2019). Die Wörter „sensitive Periode“ und „kritische Periode“ werden hierbei meist synonym verwendet. In der Forschung wird jedoch zwischen den beiden Begriffen klar unterschieden. So schreibt beispielsweise die OECD, dass von „kritischen Perioden“ die Rede sei, wenn nach Ablauf dieser Periode entsprechende Fähigkeiten tatsächlich nicht mehr erworben werden können. Im Gegensatz dazu seien „sensitive Perioden“ Zeiträume, in denen es besonders einfach ist, etwas Bestimmtes zu lernen. Das bedeutet jedoch nicht, dass man diese Fähigkeiten nicht im Nachhinein noch erwerben könnte (OECD, 2002). 

Die Theorie der kritischen Perioden stammt aus der vergleichenden Tierforschung, der Begriff wurde von Stockard bei der Forschung an Fischen im Jahr 1921 geprägt. Ein bekanntes Beispiel für eine solche kritische Periode aus der Tierforschung ist die Beobachtung von Lorenz aus dem Jahr 1935, dass Entenküken circa 15 Stunden nach dem Schlüpfen auf ein sich bewegendes Objekt geprägt werden, das in der Natur üblicherweise die Mutter ist, damit das Küken dieser folgt. Im experimentellen Setting zeigte sich jedoch, dass es nicht zwingend die Mutter, sondern jedes sich bewegende Objekt sein kann. Wird das Entenküken in dieser Zeit nicht mit einem solchen konfrontiert, so wird es gar nicht geprägt, auch nicht später auf das tatsächliche Muttertier (Vicedo, 2009). Dies ist ein typisches Beispiel für eine kritische Periode, bei der nach Ablauf des Zeitfensters keine Veränderung mehr möglich ist. Es ist jedoch falschauf Grund dieses Ergebnisses, darauf zu schließen, dass es bei Menschen genau solche kritischen Perioden gebe.

Gedankenexperiment

Um sich die Konsequenzen dieser Annahme vor Augen zu führen, ist es sinnvoll ein Gedankenexperiment durchzuführen. 

Wenn Du möchtest, höre einen Moment lang auf weiterzulesen. Überlege Dir einmal welche Konsequenzen entstehen würden, wenn die Annahme wahr wäre, dass es kritische Lernperioden gibt, nach denen die entsprechende Fähigkeit nicht mehr erlernt werden können.

Führen wir den Gedanken mal gemeinsam zu Ende. Wenn wir davon ausgehen, dass man bestimmte Dinge nur während kritischer Perioden erlernen könnte, wäre es hoffnungslos zu versuchen, jemandem etwas beizubringen, dessen vermeintliches biologisches Zeitfenster für die entsprechende Kompetenz bereits abgelaufen ist. Dies würde entsprechende Konsequenzen für die Gestaltung der Lehre und Förderung von Kindern haben. Es würde beispielsweise keinen Sinn ergeben, Schüler:innen zu fördern, die in der frühen Kindheit Zeitfenster verpasst haben, also Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Lernschwierigkeiten. Denkbar wäre ebenfalls, dass gerade ältere Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend Bildungschancen nicht wahrnehmen konnten, die Motivation genommen werden würde, dies nachzuholen. Konkret würden zum Beispiel analphabetische Menschen nie Lesen und Schreiben erlernen können bzw. es wäre von vorneherein nicht angeraten, den Betroffenen überhaupt eine Förderung zu bieten. Gleiches würde dann für das Erlernen einer Fremdsprache im Erwachsenenalter gelten. Vielleicht sind Dir sogar noch mehr Beispiele eingefallen – dies waren nur einige Ideen für mögliche Folgen, wenn kein lebenslanges Lernen möglich wäre.

Wie ist es denn nun wirklich? Was sagt die Forschung?

Um die Annahme der kritischen Periode auf den Prüfstand zu stellen, haben wir uns mit dem aktuellen Forschungsstand in diesem Bereich einmal genauer befasst und ihn für euch aufbereitet.

Die Entwicklungspsychologie unterteilt die kindliche Entwicklung in unterschiedliche Phasen, in denen unterschiedliche Entwicklungen und Fähigkeitserwerb im Fokus stehen. Erikson beschreibt zum Beispiel ein achtstufiges Phasenmodell, jede Phase geprägt von einem Entwicklungskonflikt (Widick et al., 1978). So gibt es sensible Perioden in der (früh)kindlichen Entwicklung, in denen Kinder bestimmte Dinge besonders schnell lernen bzw. Zeiträume, in denen die meisten Kinder eine entsprechende Fähigkeit entwickeln (Sylva, 1997; Trainor, 2005). So sind Kinder im Alter von 6-18 Monaten besonders empfänglich für den Bindungsaufbau zu den Eltern, während sie im Alter von 12-20 Monaten besonders schnell sprachliche Fähigkeiten erwerben (Sylva, 1997). Es zeigt sich jedoch auch eine große Varianz bei der Entwicklung der einzelnen Fähigkeiten (Laufen, Sprechen, ..) ohne dass dabei von einer Entwicklungsabweichung zu sprechen ist, oder die Kinder einen Nachteil in ihrer Entwicklung zeigen bzw. in dieser stagnieren (Vereijken, 2010). Laut Scott (1962) können sensitive Perioden auch in einer umgekehrten Reihenfolge auftauchen und besitzen eine gewisse Flexibilität.

Sensitive Perioden gibt es demzufolge in vielen Bereichen. So ist es beispielsweise wesentlich einfacher eine Fremdsprache zu lernen, wenn dies in der Kindheit oder Jugend geschieht (OECD, 2007). Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass man diese Fähigkeit im Alter nicht mehr erwerben könnte. Tatsächlich wird es im Alter schwieriger und aufwendiger zu lernen, da hier andere Verarbeitungswege erfolgen. In der Kindheit erfolgt Lernen nach dem Bottom-Up-Prinzip, im Erwachsenenalter werden neue Informationen hingegen top-down verarbeitet (White et al., 2013) (s. Box 1). Konkret bedeutet dies, dass in der frühen Kindheit keine Informationen oder Konzepte über die Umwelt vorliegen. Das Kind lernt durch Exploration, bei der die Aufmerksamkeit vor allem durch die Reize der Umwelt selbst gelenkt wird. Im Gegensatz dazu, funktioniert der Lernprozess im Erwachsenenalter anders, da bereits Konzepte und Wissensideen bestehen. Es werden beim Lernen im Erwachsenenalter eher neue Informationen ergänzt und bereits bestehende Konzepte daran angepasst.  


Top-Down: Aufmerksamkeit und Lernen sind durch höhere kognitive Prozesse gesteuert. Ein Beispiel dafür ist, eine Einkaufsliste im Kopf zu haben und im Supermarkt Ausschau nach den entsprechenden Lebensmitteln zu halten

Bottom-Up: hier handelt es sich um einen Prozess, der durch sensorischen Input initiiert wird, also etwas von “außerhalb”, das Einfluss auf die Aufmerksamkeitslenkung nimmt. 

Ein Beispiel dafür wäre der Geruch einer Bäckerei, der einen darüber nachdenken lässt, dass man noch Brot einkaufen muss.

Quelle: Zimbardo, 1999


Der eben beschriebene Vorgang von Lernen im Erwachsenenalter ist durch die Plastizität des Gehirns begründet. In diesem Zusammenhang versteht man hierunter, dass das Gehirn dazu in der Lage ist, auf Grund von Erfahrungen und jeglichen Umwelteinflüssen neuronale Veränderungen zu vollziehen. In der Kindheit und Jugend findet sich der Höhepunkt der Plastizität, danach ist es jedoch trotzdem noch möglich, wenn auch etwas schwieriger sich an neue Situationen anzupassen oder Dinge zu lernen (Jolles & Jolles, 2021). Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, sondern eher üblich, dass auch im Alter noch neue Dinge gelernt werden, da das Gehirn die Fähigkeit beibehält, seine Struktur je nach Lern- oder Übungsanforderungen zu verändern (Boyke et al., 2008). So ist es möglich auch im Alter ein Musikinstrument oder neue Fremdsprachen zu erlernen (Elbert et al., 1995; Trainor, 2005). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Fähigkeit zum Lernen im Alter, eher von anderen Faktoren beeinflusst wird als vom tatsächlichen Alter, so zum Beispiel von der Verarbeitungsgeschwindigkeit, der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und dem verbalen Wissen (Rast, 2011).

Wie ihr seht, ist es wichtig mit der Annahme der kritischen Periode aufzuräumen und zu betonen, dass niemand seiner Kindheit „ausgeliefert“ ist und auch früher versäumte Lernmöglichkeiten aufgeholt werden können. Es mag vielleicht ein längerer Weg sein – aber die Bemühungen können sich trotz dessen lohnen.

Was bedeutet das für die Praxis?

Für den Schulalltag ist es wichtig sich bewusst zu sein, dass sensible Perioden den Lernerfolg erleichtern bzw. zu schnelleren Erfolgen führen. Daher ist es sinnvoll, den Lehrplan teilweise auf sensible Perioden abzustimmen. Das Ende einer sensiblen Periode bedeutet jedoch nicht das Ende des Lernens und sollte demzufolge nicht das Ende jedweder Förderung bedeuten. Kinder mit Defiziten und Lernschwierigkeiten sollten auch darüber hinaus gefördert werden, damit weiterhin noch Lernerfolge erzielt werden können. Die Forschungsergebnisse zeigen ebenso, dass man bei entsprechender Anstrengung auch im hohen Alter durchaus noch zum Erlernen neuer Fähigkeiten in der Lage ist. 


Literaturverzeichnis

Boyke, J., Driemeyer, J., Gaser, C., Büchel, C. & May, A. (2008). Training-Induces Brain Structure Changes in the Elderly. The Journal of Neuroscience28(28), 7031–7035.

Elbert, T., Pantev, C., Wienbruch, C., Rockstroh, B. & Taub, E. (1995). Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players. Science (New York, N.Y.)270(5234), 305–307. https://doi.org/10.1126/science.270.5234.305

Goswami, U. (2006). Neuroscience and education: from research to practice? Nature reviews. Neuroscience7(5), 406–411. https://doi.org/10.1038/nrn1907

Meinhardt, J. (2019). Gehirn und Lernen. In (S. 85–106). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_5

OECD (2002). Understanding the Brain: Towards a new Learning Sciecne. Vorab-Onlinepublikation. https://doi.org/10.7551/mitpress/9780262036030.003.0009

OECD (2007). Understanding the Brain: The Birth of a Learning Science. Vorab-Onlinepublikation. https://doi.org/10.1787/9789264029132-en

Rast, P. (2011). Verbal knowledge, working memory, and processing speed as predictors of verbal learning in older adults. Developmental psychology47(5), 1490–1498. https://doi.org/10.1037/a0023422

SCOTT, J. P. (1962). Critical periods in behavioral development. Science (New York, N.Y.), 138(3544), 949–958. https://doi.org/10.1126/science.138.3544.949

Stockard, C. R. (1921). Developmental rate and structural expression: An experimental study of twins, ‚double monsters‘ and single deformities, and the interaction among embryonic organs during their origin and development. American Journal of Anatomy28(2), 115–277. https://doi.org/10.1002/aja.1000280202

Sylva, K. (1997). Critical periods in childhood learning. British medical bulletin53(1), 185–197. https://doi.org/10.1093/oxfordjournals.bmb.a011599

Trainor, L. J. (2005). Are there critical periods for musical development? Developmental psychobiology46(3), 262–278. https://doi.org/10.1002/dev.20059

Vereijken, B. (2010). The complexity of childhood development: variability in perspective. Physical therapy90(12), 1850–1859. https://doi.org/10.2522/ptj.20100019

Vicedo, M. (2009). The father of ethology and the foster mother of ducks: Konrad Lorenz as expert on motherhood.Isis; an international review devoted to the history of science and its cultural influences, 100(2), 263–291. https://doi.org/10.1086/599553

White, E. J., Hutka, S. A., Williams, L. J. & Moreno, S. (2013). Learning, neural plasticity and sensitive periods: implications for language acquisition, music training and transfer across the lifespan. Frontiers in systems neuroscience7, 90. https://doi.org/10.3389/fnsys.2013.00090

Widick, C., Parker, C. A. & Knefelkamp, L. (1978). Erik Erikson and psychosocial development. New Directions for Student Services1978(4), 1–17. https://doi.org/10.1002/ss.37119780403